Freitag, 20. Juni 2014

Zur Theorie der Vermögensverteilung

Der Bestseller von Piketty hat das Problem der Vermögenskonzentration dankenswerterweise wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Als typische Reaktion der deutschen Ökonomen bezüglich der Frage der Vermögenskonzenmtration hatte ich, ähnlich wie bezüglich der zunehmenden Ungleichheit der Einkommensverteilung, erwartet: "Das ist ein Problem der Amerikaner und kommt in der sozialen Marktwirtschaft nicht vor." Ich habe mich aber geirrt. Viele Stellungnahmen sind erfreulich undogmatisch. Die Diskussion ist aber meist ziemlich untheoretisch und manchmal, wo sie sich theoretisch gibt, m.E. irreführend. Es erschein mir deshalb zweckmäßig, einen älteren Beitrag von mir auszugsweise ins Netz zu stellen, in dem ich versucht habe, das Problem möglichst einfach darzustellen. Leider ist der Beitrag aber dennoch recht schwierig zu lesen. Wenn man das überspringen möchte, kann man zu Abbildung 1 gehen und den anschließenden Text zur Erklärung heranziehen. Der Artikel faßt das Ergebnis eines  technisch anspruchsvolleren Aufsatzes (Schlicht 1975) zusammen. Neuere Überlegungen, etwa von Borissov und Lambrecht, gehen in ähnliche Richtung.

Hier also der Auszug aus meinem Artikel "Ökonomische Theorie, speziell auch Verteilungstheorie, und Synergetik" der die Verteilungsproblematik erläutert.

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Es soll aufgezeigt werden, wie sich in einer Wirtschaft mit völlig gleichartigen Individuen Vermögensungleichheiten bilden und wie sich in einer solchen Wirtschaft ein globales Sparverhalten bildet, das losgelöst ist von individuellem Sparverhalten. Deshalb wird angenommen, daß sich die Wirtschaft aus n gleichartigen Gruppen oder Familien zusammensetzt. Der Einfachheit wird weiter unterstellt, daß die Größe jeder Gruppe im Zeitablauf konstant bleibt.

Die Vermögensbildung und Kapitalakkumulation vollzieht sich durch Bildung von Ersparnissen. Es wird unterstellt, daß der Anteil der Ersparnis am Einkommen, das eine Gruppe erhält (die Sparquote), vom Verhältnis des eigenen Einkommens zum Durchschnittseinkommen bestimmt wird. Dieser Zusammenhang sei für alle Gruppen gleich und sei so, daß mit steigendem Gruppeneinkommen zunehmend mehr gespart wird.

Formal: Sei yi das Einkommen der Gruppe i, si deren Ersparnis und y das Durchschnittseinkommen, so gilt si = f(yi/y)yi mit 0< f< 1,  f' > 0,  f'' <0,  f()=1, 2f' +f''·yi/y>0 für alle i, yi , y.
 
Das Einkommen einer jeden Gruppe ergibt sich als Summe von Lohneinkommen und der Verzinsung des Kapitals, das sich in ihrem Besitz befindet. Das Lohneinkommen sei für alle Gruppen gleich und der Zinssatz ebenfalls. Einkommensunterschiede ergeben sich mithin allein aufgrund von Vermögensungleichheiten. Unterstellen wir nun ein gewisses Produktivitätswachstum in der Wirtschaft und eine Lohn- und Zinsbildung gemäß den relativen Faktorknappheiten (je geringer die Kapitalausstattung, um so geringer ist der Lohnsatz und um so höher ist die Kapitalverzinsung), so läßt sich der zeitliche Verlauf der Vermögensverteilung analysieren. Dabei ist zu bedenken, daß die durchschnittliche volkswirtschaftliche Sparquote steigt, wenn die Vermögensverteilung ungleicher wird. (Wird z. B. das gesamte Einkommen nur an eine Gruppe gegeben, so hat diese wegen ihres überdurchschnittlichen Einkommens eine höhere Sparquote, als sie sich bei Gleichverteilung des Einkommens ergeben würde, und entsprechend hoch ist die volkswirtschaftliche Sparquote.) 

Gehen wir nun von einer Gleichverteilung aus, bei der alle Gruppen über dieselbe Menge an Kapital verfügen und mithin alle dasselbe Einkommen und dieselbe Ersparnis haben. Wird dabei sehr wenig gespart, so führt das zu einer geringen Kapitalbildung, zu geringen Löhnen und hohen Zinsen. Ergibt sich in solch einem Zustand eine kleine Störung in der Vermögensverteilung, z. B. dadurch, daß eine Gruppe zufällig etwas weniger konsumiert als die anderen Gruppen und dadurch etwas mehr Kapital bildet, so führt dies zu einer sich selbst verstärkenden Vermögensungleichheit: Die Gruppen mit überdurchschnittlichem Vermögen erhalten überdurchschnittliche Zinseinkünfte und damit überdurchschnittliches Einkommen. Sie sparen mehr und bilden noch mehr Vermögen usw. Dieser Vermögenskonzentrationsprozeß geht einher mit zunehmender Ersparnisbildung in der Wirtschaft insgesamt, was zu besserer Kapitalversorgung, steigenden Löhnen und fallenden Zinsen führt. Die fallenden Zinsen bremsen letztlich den Prozeß, da sie die Einkommensdifferenzen, wie sie aus der Vermögensungleichheit entstehen, einebnen. Dazu muß man folgendes bedenken. 

Wenn eine Gruppe sehr viel Kapital besitzt, hat sie ein sehr hohes Einkommen, das praktisch nur aus Vermögenseinkommen besteht. Wenn sie dies nahezu gänzlich spart, ist ihre Ersparnis ungefähr gleich ihren gesamten Kapitaleinkünften. Ihr Kapital wächst deshalb mit dem Zinssatz: Ist der Zinssatz etwa 10%, so wächst ihr Kapital pro Periode um 10%. Andererseits führt das allgemeine Produktivitätswachstum aufgrund des technischen Fortschritts von sich aus zu einem gewissen Wachstum der Wirtschaft. Ist der Zinssatz größer als dieses "natürliche" Wachstum des Einkommens, so steigt der Anteil der betrachteten reichen Gruppe am Volkseinkommen; ist der Zinssatz kleiner, so fällt dieser Anteil. Letztlich kommt deshalb der Vermögenskonzentrationsprozeß zu einem Halt, wenn die Vermögenskonzentration so weit fortgeschritten ist, daß der Zinssatz auf das Niveau der Rate des "natürlichen" Wachstums gedrückt ist, denn hier nimmt der Anteil der reichen Gruppe am Volkseinkommen nicht mehr zu.

Damit ergibt sich aber für die Volkswirtschaft insgesamt eine Gleichheit von Zinssatz und der Rate des "natürlichen" Wachstums, unabhängig von der speziellen Gestalt der Sparfunktion, die das individuelle Sparverhalten beschreibt, d. h. unabhängig innerhalb gewisser Grenzen: Die Ersparnis bei Gleichverteilung darf nicht zu hoch sein. Alle Gruppen, die über weniger Kapital verfügen als die vermögendste Gruppe, sparen weniger als diese und fallen im Vermögen auf ein Niveau ab, bei dem die Ersparnis aus Lohneinkommen und Kapitaleinkommen zusammen gerade gleich der Verzinsung des Kapitals ist, das diese Gruppen besitzen: Auch diese Gruppen sparen gerade ihr Kapitaleinkommen. Damit ergibt sich, daß für die Volkswirtschaft insgesamt gerade das Kapitaleinkommen als Ersparnis gebildet wird: Es ergibt sich ein volkswirtschaftliches Sparverhalten, das weitgehend vom individuellen Sparverhalten entkoppelt ist und durch Vermögensungleichheiten in einer homogenen Population erzeugt wird. 



Abb. 1 illustriert den zeitlichen Verlauf, wie er sich ergibt, wenn man ein entsprechendes Modell durchrechnet. (Das Modell, das der Abbildung zugrunde liegt, ist im Anhang von Schlicht (1975) dargestellt. In dem hier analysierten Modell werden jedoch zehn gleich große Gruppen sowie b = 3  unterstellt.) Ausgehend von einer Gleichverteilung führt eine sehr kleine zufällige Störung der Vermögensverteilung im Zeitpunkt 0 zu dem dargestellten Verlauf der Vermögen von zehn Gruppen, und es bildet sich eine Zwei-Klassen-Verteilung, in der eine Gruppe sehr viel, alle anderen wenig Vermögen besitzen. Und wiederum läßt sich hier der Gedanke der "unsichtbaren Hand" aufgreifen, denn in dieser Zwei-Klassen-Verteilung ist das Einkommen aller - auch der Armen - höher als in der Einklassenverteilung. (Dies läßt sich allgemein zeigen, siehe Bourguignon (1981). Siehe auch Bental und Wenig (1983) zu der Frage, ob in einer Wirtschaft Ungleichheiten zwischen gleichen Individuen generiert werden.) 

Dieses kleine Beispiel mag verdeutlichen, auf welche Weise synergetische Gedanken in der Wirtschaftstheorie verfolgt werden - hier der Gedanke der Bildung von eigenständigen Systemgesetzmäßigkeiten. Allerdings ist dergleichen in der Volkswirtschaftslehre nie als besonders revolutionär betont worden. Wenn Ökonomen von ökonomischen Gesetzen sprechen, so postulieren sie ja gerade derartige Systemgesetzmäßigkeiten. Ohne solche Gesetzmäßigkeiten hätte die Wirtschaftstheorie keinen Reiz und wohl auch keinen Sinn. Aber gerade aus diesem Grunde ist der Aufschwung der Synergetik für die Ökonomen sehr begrüßenswert, denn sie dürfen hoffen, mathematische Werkzeuge in die Hand zu bekommen, die ihnen erlauben werden, viele Probleme, die sie bisher nur recht intuitiv behandeln, exakt zu begreifen.


Literatur 
 
Bental, B. und Wenig, A. (1983): Will People Become Alike if they are Alike? Zeitschrift für Nationalökonomie 43 (3), 1983,289-300. (Link)
 
Bourguignon, F. (1981): Pareto Superiority of Unegalitarian Equilibria in Stiglitz' Model of Wealth Distribution with Convex Saving Function. Econometrica 49(6), 1469-75. (Link)

Schlicht, E. (1975): A Neodassical Theory of Wealth Distribution. Jahrbücher für 
Nationalökonomie und Statistik 189(1/2) , 1975, 78-96. (Link)

Schlicht, E. (1986): Ökonomische Theorie, speziell auch Verteilungstheorie, und Synergetik, in: Andreas Dress, Hubert Hendrichs und Günter Küppers (Hg.), Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, Piper Verlag München 1986, 219-227. (Link)

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