Sonntag, 29. Juni 2014

Pasinetti und Piketty (Leider lang und technisch)

Lance Taylor hat zu Recht auf den Zusammenhang von Thomas Pikettys Argumentation und den Überlegungen von Luigi Pasinetti aus dem Jahre 1962 hingewiesen. In dem Aufsatz zeigt Pasinetti, daß, wenn man von Besteuerung absieht,  langfristig der Zinssatz approximativ durch die Sparquote der Kapitaleinkommensbezieher mit der höchsten Sparquote und die Wachstumsrate der Wirtschaft bestimmt wird. Die Zinsbestimmung ist damit unabhängig von der Produktionstechnik. Man spricht deshalb auch vom "Pasinetti-Paradox".

Jedoch ist Pasinettis Ergebnis nicht an eine neo-keynesianische Modellierung gebunden, wie Lance Taylosrs Ausführungen nahelegen, sondern ergibt sich auch in strikt neoklassischen Modellen. Tatsächlich ist Pasinettis neo-keynesianische Formulierung sehr angreifbar weil sie die Annahme voraussetzt, dass die Reallöhne sich antizyklisch entwickeln was empirisch eher nicht der Fall ist. Jedoch sind Pasinettis Überlegungen von wesentlich allgemeinerer Bedeutung. Ich möchte deshalb die grundsätzliche Idee von Pasinetti in einem neoklassischen Rahmen erläutern und daran anschließend die Wirkung einer Vermögenssteuer, wie sie ja von Piketty gefordert wird, in diesem Zusammenhang diskutieren. Es wird sich zeigen dass die Einführung einer Vermögenssteuer immer dann sehr  problematisch wird, wenn man annimmt, dass höhere Ersparnis zu mehr Kapitalbildung führt. Eine Vermögenssteuer führt dann lediglich zu einer Erhöhung des Zinses um den Betrag der Steuer, sodass die Netto-Zinserträge unverändert bleiben und lediglich die Kapitalnutzungskosten erhöht werden, was die Reallöhne drückt.



Das Pasinetti-Paradox


Im folgenden versuche ich das, was ich allgemeiner in Schlicht (1975) formuliert habe, möglichst einfach darzustellen. Bezeichnen wir die Wachstumsrate mit g, die höchste Sparquote mit smax und den Zinssatz mit r, so laute diese Beziehung (die sogenannte Pasinetti-Relation)

(1)                   r=g / smax 

Die Überlegung, die hinter dieser Formel steht, ist die folgende.Wir betrachten n Gruppen von Haushalten und indexieren wir sie mit i=1,2,... n. Die Haushalte in jeder Gruppe sind gleich, aber die Gruppen unterscheiden sich untereinander. Jeder Haushalt bezieht Einkommen, das sich aus Lohneinkommen und Kapitaleinkommen zusammensetzt. Aus diesem Einkommen wird gespart. Das führt zu weiterer Kapitalbildung und damit zu einer eine Erhöhung des Kapitaleinkommens. Diejenigen, die mehr sparen, bekommen dann auf die Dauer das höchste Kapitaleinkommen und letztlich auch das höchste Einkommen. Daraus resultiert Vermögenskonzentration.  


Bezeichne  wi das Lohneinkommen eines Haushalts der Gruppe i und  ki sein Kapitalvermögen. Bei einem Zinssatz r resultiert daraus ein Einkommen aus Kapitalbesitz in Höhe rk . Zusammen mit dem Lohneinkommen wi ergibt sich dann das Einkommen des Haushalts i als yi=wi +rki. Handelt es sich um einen Haushalt, der kein Lohneinkommen bezieht, so ist wi =0. Jeder Haushalt in der Gruppe i spart mit der Sparquote si . Somit ergibt sich für jeden Haushalt in der Gruppe i die Ersparnis Si = s yi und somit Si = s (wi +rki). Das Haushaltsvermögen in der Gruppe i erhöht sich um diese Ersparnis. Die Wachstumsrate des Vermögens in der Gruppe i ist damit gegeben durch die Erhöhung des Kapitalvermögens dividiert durch das Kapitalvermögen, also Si /ki  oder das Verhältnis der Ersparnis Szum Vermögen ki . Wir bezeichnen die Wachstumsrate des Vermögens der Gruppe i mit gi  und können also schreiben:

(2)                    gi = s wi/ki +si r.    
Wir betrachten nun die Gruppe i =max mit der maximalen Sparquote smax. Für diese gilt

(3)                   gmax > smax r .
Wenn nun der Ausdruck smax größer ist als die allgemeine Wachstumsrate g des Vermögens in der Volkswirtschaft, nimmt der Anteil des Vermögens der Gruppe i=max laufend zu. Damit steigt das Einkommen, das die Gruppe max erhält. Da diese Gruppe eine höhere Sparquote als alle anderen hat, nimmt die volkswirtschaftliche Ersparnis und damit die Kapitalbildung zu. Das führt zu niedrigeren Zinsen. Die niedrigeren Zinsen reduzieren gemäß (3) die Wachstumsrate  gmax der Gruppe mit der höchsten Wachstumsrate. Das geht so weiter, bis die Wachstumsrate   gmax  gleich der allgemeinen Wachstumsrate g ist. Dann gilt g=smax  wmax/kmax +smax r. Wenn diese Gruppe ausschließlich Kapitaleinkommen und kein Lohneinkommen erhält (wmax=0), wie Pasinetti annimmt, ergibt sich daraus die Pasinetti-Beziehung (1). Sie ergibt sich auch approximativ, wenn das Verhältnis wmax/kmax praktisch Null ist, wie man bei Superreichen annehmen kann, denn ihr Lohneinkommen ist, wenn überhaupt vorhanden, nur ein Bruchteil ihres Vermögens. (Für einen Milliardär mit einem Lohneinkommen von einer Million pro Jahr wäre das Verhältnis w/k=1.000.000/1.000.000.000=1/1000.)

(Falls die maximale Sparquote smax gleich Eins ist, reduziert sich (1) zu r=g. Ein solcher Zustand erfüllt die "goldene Regel" und hat die Eigenschaft, dass der gleichgewichtige Konsum maximiert wird, siehe Phelps und von Weizsäcker. Im allgemeinen können wir davon ausgehen, dass smax nahe bei Eins liegt und daß mithin die goldene  Regel approximativ erfüllt ist.)

Wie sieht es für die anderen Gruppen aus? Bei diesen Gruppen ist  si r. < smax r. Handelt es sich um Haushalte, die kein Lohneinkommen beziehen ("Kapitalisten", wi = 0), so ist die Wachstumsrate ihres Vermögens kleiner als die allgemein Wachstumsrate g. Ihr Anteil am Kapitalbesitz geht gegen Null. Für die Haushalte mit positivem Lohneinkommen wird sich die Wachstumsrate des Vermögens auf die allgemeine Wachstumsrate g einstellen. Man erhält dann s wi/ki +si r=g und mithin

(4)                    ki = wi/(g-si r).
Im Gleichgewicht ist also, bis auf die Gruppe mit der höchsten Sparquote, das Vermögen ein Vielfaches des Lohneinkommens, wobei der Vervielfachungsfaktor  progressiv mit der Sparquote zunimmt.. Die allgemeine Lohnentwicklung wird folgen. Die allgemeine Lohnentwicklung wird mithin dadurch charakterisiert sein, daß die Löhne mit der allgemeinen Wachstumsrate g wachsen.

Wenn wir vernünftigerweise annehmen daß die Sparquote der Haushalte sich mit steigendem Einkommen erhöht ergibt sich daraus, daß die Vermögensverteilung wesentlich ungleicher ist als die Lohnverteilung. Das trifft empirisch zu. 


Aus der Beziehung (2) ergibt ist auch der Anpassungsprozess von ki an den in (4) angegebenen Gleichgewichtswert ersichtlich. Gemäß (2) nimmt die Wachstumsrate des Vermögens einer Gruppe mit zunehmenden Vermögen ab. Bei dem in (4) gegebenen Wert wächst das Vermögen der betrachteten Gruppe i gerade mit der allgemeinen Wachstumsrate g. Liegt das Vermögen dieser Gruppe über diesem Wert, so wächst das Gruppenvermögen langsamer als die Wachstumsrate und der Einkommensanteil dieser Gruppe nimmt ab. Umgekehrt nimmt das Vermögensanteil zu, wenn das Vermögen unter dem in (4) gegebenen Wert liegt.


Soviel zu Pasinetti. Für die an der Wissenschaftsgeschichte interessierten Leser sei an dieser Stelle bemerkt, dass ich es in meinem Aufsatz von 1975 nicht nötig befinden hatte, Pasinetti explizit zu zitieren. In der Einleitung hatte ich lediglich bemerkt, daß mein Modell zu Klassensparverhalten à la Pasinetti führt. Der Hintergrund ist der, daß um 1975 jeder Makrotheoretiker das Pasinetti-Paradoxon kannte und dass es deshalb nicht gesondert erläutert werden mußte. Heutzutage ist das wohl anders, sonst hätte wohl kaum der repräsentative Haushalt à la Lucas in die Makrotheorie Einzug halten können.



Die Wirkung einer Vermögenssteuer

Nun aber zum Thema: der Wirkung einer Vermögenssteuer auf die Vermögensverteilung.
Betrachten wir eine Vermögenssteuer von t. Sie wird auf das Vermögen erhoben und wirkt wie ein negativer Zinssatz. Das Kapitaleinkommen eines Haushalts der Gruppe i reduziert sich damit von rki auf  (r-t)ki . Damit wird die Pasinetti-Rekation (1) zu r-t = g / smax oder

(5)                    r =  g / smax + t .       
Eine Vermögenssteuer erhöht langfristig das Zinsniveau um die Rate der Vermögensbesteuerung. Entsprechend werden für die Unternehmungen die Kredite teurer und die Kapitalkosten steigen. Es wird deshalb Kapital durch Arbeit substituiert und die Reallöhne fallen. Insgesamt stehen dann alle schlechter da.


Der gleich Effekt tritt ein, wenn eine Einkommenssteuer von t erhoben wird. (Genau genommen geht es nur um den marginalen Steuersatz, also die Steuer, die zusätzlich gezahlt werden muß, wenn das Einkommen sich um einen Euro erhöht.)


Wenn wir hinreichende Heterogenität voraussetzten, wird die maximale Sparquote smax nahe bei Eins sein. (Genau genommen geht es hier übrigens wiederum um die marginale Sparquote, aber die hier gemachten Überlegungen haben die Unterscheidung zwischen durchschnittlicher und marginaler Sparquote vernachlässigt.)  Wenn smax ~ 1 ist reduziert sich (5) auf

(6)                    r ~ g +t

Damit wird deutlich, dass eine Vermögenssteuer nicht geeignet ist, den  empirischen Sachverhalt r > g  zu kompensieren, denn r > g  ist eine Konsequenz der Einkommens- und Vermögensbesteuerung. Je höher die Besteuerung t, umso höher wird die Differenz zwischen r und g . Im Rahmen von Pasinettis Überlegungen ist es deshalb abwegig, die Vermögenskonzentration durch Besteuerung zu bekämpfen, denn langfristig wird die Nettoverzinsung des Vermögens durch eine Einkommens- oder Vermögenssteuer nicht tangiert, wohl aber werden wegen nunmehr geringerer Kapitalausstattung der Arbeitsplätze die Reallöhne gesenkt, was einen Nachteil für die Lohnbezieher bedeutet. Siehe dazu auch  Bourgignon (1981).


Zwei Nachbemerkungen

Erstens ein Quellenhinweis. Das, was ich oben über Steuerwirkungen in der neoklassischen Variante von Pasinettis Überlegungen ausgeführt habe, stammt meinem Gedächtnis nach ursprünglich von einem japanischen Ökonomen und wurde in einer japanischen Zeitschrift um ca. 1980 auf englisch publiziert. Trotz sehr intensiver Suche meinerseits habe ich den Beitrag aber nicht finden können und habe ihn auch nicht mehr in meinen Unterlagen. Deshalb kann ich hier leider nicht korrekt zitieren und muss mich auf diesen Hinweis beschränken.

Zweitens eine wichtige Einschränkung der gesamten Argumentation: Eine wichtige Voraussetzung  ist, dass eine Erhöhung der volkswirtschaftlichen Ersparnis zu höherer Kapitalbildung führt. Das ist zwar bei Vollbeschäftigung der Fall, bei Unterbeschäftigung kann aber die gegenteilige Wirkung eintreten: Wenn die Besteuerung der hohen Einkommen die volkswirtschaftliche Sparquote reduziert, wird die Nachfrage größer, die Investitionen nehmen zu und am Ende steigt die volkswirtschaftliche Ersparnis -- das ist das bekannte Sparparadox. Das macht dann die gesamte Argumentation für den Fall der Unterbeschäftigiung hinfällig. Letztlich geht es immer um Förderung der Kapitalbildung zwecks Steigerung der Produktivität der Arbeitsplätze.



Literatur:


Bourguignon, F. (1981): Pareto Superiority of Unegalitarian Equilibria in Stiglitz' Model of Wealth Distribution with Convex Saving Function. Econometrica 49(6), 1469-75. (Link)
 
Pasinetti, Luigi (1962).:  Rate of Profit and Income Distribution in Relation to the Rate of Economic Growth 1962  Review of Economic Studies, S. 267-279 (Link) deutsch in Schlicht, E. (1976): Einführung in die Verteilungstheorie, Rowohlt: Reinbek, S. 205-222). (Die Stabilitätsbetrachtung in diesem Aufsatz ist etwas problematisch, aber die Gleichgewichtsbedingungen treffen zu und lassen sich auch mit anderen Stabilitätsmevchanismen herleiten, wie etwa bei Meade oder Samuelson und Modigliani oder auch wie in einem früheren Blog.)


Piketti, Thomas (2014), Das Kapital im 21. Jahrhundert, aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer C.H. Beck, München (Link)

Schlicht, E. (1975): A Neodassical Theory of Wealth Distribution. Jahrbücher für 
Nationalökonomie und Statistik 189(1/2) , 1975, 78-96. (Link)

Freitag, 20. Juni 2014

Zur Theorie der Vermögensverteilung

Der Bestseller von Piketty hat das Problem der Vermögenskonzentration dankenswerterweise wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Als typische Reaktion der deutschen Ökonomen bezüglich der Frage der Vermögenskonzenmtration hatte ich, ähnlich wie bezüglich der zunehmenden Ungleichheit der Einkommensverteilung, erwartet: "Das ist ein Problem der Amerikaner und kommt in der sozialen Marktwirtschaft nicht vor." Ich habe mich aber geirrt. Viele Stellungnahmen sind erfreulich undogmatisch. Die Diskussion ist aber meist ziemlich untheoretisch und manchmal, wo sie sich theoretisch gibt, m.E. irreführend. Es erschein mir deshalb zweckmäßig, einen älteren Beitrag von mir auszugsweise ins Netz zu stellen, in dem ich versucht habe, das Problem möglichst einfach darzustellen. Leider ist der Beitrag aber dennoch recht schwierig zu lesen. Wenn man das überspringen möchte, kann man zu Abbildung 1 gehen und den anschließenden Text zur Erklärung heranziehen. Der Artikel faßt das Ergebnis eines  technisch anspruchsvolleren Aufsatzes (Schlicht 1975) zusammen. Neuere Überlegungen, etwa von Borissov und Lambrecht, gehen in ähnliche Richtung.

Hier also der Auszug aus meinem Artikel "Ökonomische Theorie, speziell auch Verteilungstheorie, und Synergetik" der die Verteilungsproblematik erläutert.

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Es soll aufgezeigt werden, wie sich in einer Wirtschaft mit völlig gleichartigen Individuen Vermögensungleichheiten bilden und wie sich in einer solchen Wirtschaft ein globales Sparverhalten bildet, das losgelöst ist von individuellem Sparverhalten. Deshalb wird angenommen, daß sich die Wirtschaft aus n gleichartigen Gruppen oder Familien zusammensetzt. Der Einfachheit wird weiter unterstellt, daß die Größe jeder Gruppe im Zeitablauf konstant bleibt.

Die Vermögensbildung und Kapitalakkumulation vollzieht sich durch Bildung von Ersparnissen. Es wird unterstellt, daß der Anteil der Ersparnis am Einkommen, das eine Gruppe erhält (die Sparquote), vom Verhältnis des eigenen Einkommens zum Durchschnittseinkommen bestimmt wird. Dieser Zusammenhang sei für alle Gruppen gleich und sei so, daß mit steigendem Gruppeneinkommen zunehmend mehr gespart wird.

Formal: Sei yi das Einkommen der Gruppe i, si deren Ersparnis und y das Durchschnittseinkommen, so gilt si = f(yi/y)yi mit 0< f< 1,  f' > 0,  f'' <0,  f()=1, 2f' +f''·yi/y>0 für alle i, yi , y.
 
Das Einkommen einer jeden Gruppe ergibt sich als Summe von Lohneinkommen und der Verzinsung des Kapitals, das sich in ihrem Besitz befindet. Das Lohneinkommen sei für alle Gruppen gleich und der Zinssatz ebenfalls. Einkommensunterschiede ergeben sich mithin allein aufgrund von Vermögensungleichheiten. Unterstellen wir nun ein gewisses Produktivitätswachstum in der Wirtschaft und eine Lohn- und Zinsbildung gemäß den relativen Faktorknappheiten (je geringer die Kapitalausstattung, um so geringer ist der Lohnsatz und um so höher ist die Kapitalverzinsung), so läßt sich der zeitliche Verlauf der Vermögensverteilung analysieren. Dabei ist zu bedenken, daß die durchschnittliche volkswirtschaftliche Sparquote steigt, wenn die Vermögensverteilung ungleicher wird. (Wird z. B. das gesamte Einkommen nur an eine Gruppe gegeben, so hat diese wegen ihres überdurchschnittlichen Einkommens eine höhere Sparquote, als sie sich bei Gleichverteilung des Einkommens ergeben würde, und entsprechend hoch ist die volkswirtschaftliche Sparquote.) 

Gehen wir nun von einer Gleichverteilung aus, bei der alle Gruppen über dieselbe Menge an Kapital verfügen und mithin alle dasselbe Einkommen und dieselbe Ersparnis haben. Wird dabei sehr wenig gespart, so führt das zu einer geringen Kapitalbildung, zu geringen Löhnen und hohen Zinsen. Ergibt sich in solch einem Zustand eine kleine Störung in der Vermögensverteilung, z. B. dadurch, daß eine Gruppe zufällig etwas weniger konsumiert als die anderen Gruppen und dadurch etwas mehr Kapital bildet, so führt dies zu einer sich selbst verstärkenden Vermögensungleichheit: Die Gruppen mit überdurchschnittlichem Vermögen erhalten überdurchschnittliche Zinseinkünfte und damit überdurchschnittliches Einkommen. Sie sparen mehr und bilden noch mehr Vermögen usw. Dieser Vermögenskonzentrationsprozeß geht einher mit zunehmender Ersparnisbildung in der Wirtschaft insgesamt, was zu besserer Kapitalversorgung, steigenden Löhnen und fallenden Zinsen führt. Die fallenden Zinsen bremsen letztlich den Prozeß, da sie die Einkommensdifferenzen, wie sie aus der Vermögensungleichheit entstehen, einebnen. Dazu muß man folgendes bedenken. 

Wenn eine Gruppe sehr viel Kapital besitzt, hat sie ein sehr hohes Einkommen, das praktisch nur aus Vermögenseinkommen besteht. Wenn sie dies nahezu gänzlich spart, ist ihre Ersparnis ungefähr gleich ihren gesamten Kapitaleinkünften. Ihr Kapital wächst deshalb mit dem Zinssatz: Ist der Zinssatz etwa 10%, so wächst ihr Kapital pro Periode um 10%. Andererseits führt das allgemeine Produktivitätswachstum aufgrund des technischen Fortschritts von sich aus zu einem gewissen Wachstum der Wirtschaft. Ist der Zinssatz größer als dieses "natürliche" Wachstum des Einkommens, so steigt der Anteil der betrachteten reichen Gruppe am Volkseinkommen; ist der Zinssatz kleiner, so fällt dieser Anteil. Letztlich kommt deshalb der Vermögenskonzentrationsprozeß zu einem Halt, wenn die Vermögenskonzentration so weit fortgeschritten ist, daß der Zinssatz auf das Niveau der Rate des "natürlichen" Wachstums gedrückt ist, denn hier nimmt der Anteil der reichen Gruppe am Volkseinkommen nicht mehr zu.

Damit ergibt sich aber für die Volkswirtschaft insgesamt eine Gleichheit von Zinssatz und der Rate des "natürlichen" Wachstums, unabhängig von der speziellen Gestalt der Sparfunktion, die das individuelle Sparverhalten beschreibt, d. h. unabhängig innerhalb gewisser Grenzen: Die Ersparnis bei Gleichverteilung darf nicht zu hoch sein. Alle Gruppen, die über weniger Kapital verfügen als die vermögendste Gruppe, sparen weniger als diese und fallen im Vermögen auf ein Niveau ab, bei dem die Ersparnis aus Lohneinkommen und Kapitaleinkommen zusammen gerade gleich der Verzinsung des Kapitals ist, das diese Gruppen besitzen: Auch diese Gruppen sparen gerade ihr Kapitaleinkommen. Damit ergibt sich, daß für die Volkswirtschaft insgesamt gerade das Kapitaleinkommen als Ersparnis gebildet wird: Es ergibt sich ein volkswirtschaftliches Sparverhalten, das weitgehend vom individuellen Sparverhalten entkoppelt ist und durch Vermögensungleichheiten in einer homogenen Population erzeugt wird. 



Abb. 1 illustriert den zeitlichen Verlauf, wie er sich ergibt, wenn man ein entsprechendes Modell durchrechnet. (Das Modell, das der Abbildung zugrunde liegt, ist im Anhang von Schlicht (1975) dargestellt. In dem hier analysierten Modell werden jedoch zehn gleich große Gruppen sowie b = 3  unterstellt.) Ausgehend von einer Gleichverteilung führt eine sehr kleine zufällige Störung der Vermögensverteilung im Zeitpunkt 0 zu dem dargestellten Verlauf der Vermögen von zehn Gruppen, und es bildet sich eine Zwei-Klassen-Verteilung, in der eine Gruppe sehr viel, alle anderen wenig Vermögen besitzen. Und wiederum läßt sich hier der Gedanke der "unsichtbaren Hand" aufgreifen, denn in dieser Zwei-Klassen-Verteilung ist das Einkommen aller - auch der Armen - höher als in der Einklassenverteilung. (Dies läßt sich allgemein zeigen, siehe Bourguignon (1981). Siehe auch Bental und Wenig (1983) zu der Frage, ob in einer Wirtschaft Ungleichheiten zwischen gleichen Individuen generiert werden.) 

Dieses kleine Beispiel mag verdeutlichen, auf welche Weise synergetische Gedanken in der Wirtschaftstheorie verfolgt werden - hier der Gedanke der Bildung von eigenständigen Systemgesetzmäßigkeiten. Allerdings ist dergleichen in der Volkswirtschaftslehre nie als besonders revolutionär betont worden. Wenn Ökonomen von ökonomischen Gesetzen sprechen, so postulieren sie ja gerade derartige Systemgesetzmäßigkeiten. Ohne solche Gesetzmäßigkeiten hätte die Wirtschaftstheorie keinen Reiz und wohl auch keinen Sinn. Aber gerade aus diesem Grunde ist der Aufschwung der Synergetik für die Ökonomen sehr begrüßenswert, denn sie dürfen hoffen, mathematische Werkzeuge in die Hand zu bekommen, die ihnen erlauben werden, viele Probleme, die sie bisher nur recht intuitiv behandeln, exakt zu begreifen.


Literatur 
 
Bental, B. und Wenig, A. (1983): Will People Become Alike if they are Alike? Zeitschrift für Nationalökonomie 43 (3), 1983,289-300. (Link)
 
Bourguignon, F. (1981): Pareto Superiority of Unegalitarian Equilibria in Stiglitz' Model of Wealth Distribution with Convex Saving Function. Econometrica 49(6), 1469-75. (Link)

Schlicht, E. (1975): A Neodassical Theory of Wealth Distribution. Jahrbücher für 
Nationalökonomie und Statistik 189(1/2) , 1975, 78-96. (Link)

Schlicht, E. (1986): Ökonomische Theorie, speziell auch Verteilungstheorie, und Synergetik, in: Andreas Dress, Hubert Hendrichs und Günter Küppers (Hg.), Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, Piper Verlag München 1986, 219-227. (Link)