Dienstag, 19. November 2013

Der Sachverständigenrat zur Entwicklung der Ungleichheit

In den Passagen zur Entwicklung der Ungleichheit folgt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten dem beschönigenden Armutsbericht und urteilt:
So hat die Ungleichheit der Einkommen gemessen am Gini-Koeffizienten seit Beginn der 1990er-Jahre lediglich moderat zugenommen.
Das verwundert. Der Rat hatte für diese Frage bessere Daten als das Sozio-ökonomische Panel zur Verfügung, das dem No-response measurement error unterliegt, da es auf freiwilligen Auskünften beruht. Der Sachverständigenrat hatte nämlich selbst von Bernd Fitzenberger eine  Expertise zur Entwicklung der Lohnungleichheit in Deutschland erstellen lassen, die auf den wesentlich vollständigeren und genaueren Daten der Besachäftigtenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit aufbaut. Hier zeigt sich eine dramatische Zunahme der Lohnungleichheit in Deutschland. Vergleicht man die Entwicklung der Durchschnittverdienste der geringer verdienenden mit denen der höher verdienenden so ergibt sich aufgrund der Daten auf S. 27 folgendes Bild:

Entwicklung der höheren Löhne (80. Perzentil) und der niedrigeren Löhne (10. Perzentil) in Deutschland Quelle

Die obere Kurve gibt dabei die Entwicklung der Reallöhne in Deutschland bei den besserverdienenden (80. Perzentil) und die untere Kurve bei den geringer verdienenden (20. Perzentil) ganztags sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die Reallohne sind in der einen Gruppe innerhalb der letzten fünfzehn Jahren um knapp zehn Prozent gestiegen,  die in der anderen Gruppe um knapp zehn Prozent gefallen. (In Fitzenbergers Expertise finden sich übrigens eine Reihe von sehr detaillierten Darstellungn.)

Unter einem Perzentil ist folgendes zu verstehen.  Man reiht alle Lohnempfänger nach der Größe ihres Lohnes. Der Lohn, unter dem gerade den 10% der Beschäftigten verdienen, gibt das 10. Perzentil, der Lohn, unter dem gerade 20% verdienen gibt das 20. Perzentil und so weiter. Mithin gibt das 80. Perzentil den Lohn, unter dem 80% verdienen.


Die Besserverdienenden hatten von 1995 bis 2010 eine Reallohnsteigerung von kanpp 10%, die geringer verdienenden eine Reallohnsenkung um knapp 10 Prozent.

Anders ausgedrückt: Das Verhältnis der Durchschnittslöhne der Besserverdienenden (80. Perzentil) zu den Durchschnittslöhnen der geringer verdienenden (20. Perzentil) hat sich in der Zeit von 1995-2010 von 1,92 auf 2,32 kontinuierlich erhöht:


Zunahme der Lohnungleichheit (80 zu 20. Perzentil) in Deutschland. Quelle
Und dabei sind nicht einmal die Teilzeitbeschäftigten und Arbeitslosen erfaßt, und auch nicht die Minjobber!

Die Expertise von Fitzenberger war dem Sachverständigenrat nicht unbekannt. Er zitiert sie im Zusammenhang mit Mindestlöhnen:
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro würde vor allem Arbeitnehmer in Ostdeutschland, in
kleinen Betrieben, in konsumnahen Wirtschaftszweigen und insbesondere diejenigen mit geringer Qualifikation betreffen. ... Diese Befürchtung wird durch die Kennzahlen zur Lohnstruktur in Deutschland aus der im Auftrag des Sachverständigenrates für das Jahresgutachten 2012 erstellten Expertise untermauert (Fitzenberger, 2012). 
Es ist bemerkenswert, daß Fitzenbergers Studie so selektiv herangezogen wird: Die Ergebnisse werden nur dort verwendet, wo sie passen (Warnung vor Mindestlöhnen), aber dort übergangen, wo sie ein unerwünschtes Bild zeichnen (Zunahme der Ungleichheit).

Im übrigen ist in Zeiten geringer werdender Arbeitslosigkeit eine Abnahme der Ungleichheit zu erwarten. Es stimmt aber bedenklich, wenn bei abnehmender Arbeitslosigkeit dennoch das Armutsrisiko zunimmt, wie der DGB in seiner Stellungnahme zum Armutsbericht dargelegt hat:
Arbeitslosenquote (rot), Armutsrisikoquote (oben) und dauerhafte Armut (unten) Quelle

Mit anderen Worten: Der Sachverständigenrat urteilt bezüglich der Entwicklung der Ungleichheit  nicht objektiv sondern benutzt die vorhandene Evidenz selektiv, und damit verzerrend.


Nachtrag (22.11.2013) Stefan Dudey hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß es statt "sozialhilfepflichtig" "sozialversicherungspflichtig" heißen mußte. Ich habe das im Blog korrigiert. Vielen Dank!

Nachtrag (28.11.2013) Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, daß meine Erklärung der Perzentile in der ersten Fassung falsch war. Ich habe das oben korrigiert.

Donnerstag, 14. November 2013

Der Sachverständigenrat zum Mindestlohn

In seinem neuesten Gutachten schreibt der Sachverständigenrat:
Für Deutschland gibt es naturgemäß bislang keine Evaluation eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Jüngst wurden im Rahmen einer groß angelegten Evaluationsstudie die Wirkungen branchenspezifischer Lohnuntergrenzen untersucht. Die auf Mikrodaten beruhenden Studien finden unterschiedliche Effekte, wobei die Beschäftigungseffekte zumeist nicht sehr groß ausfallen, die Lohnstruktur aber deutlich komprimiert wird (Möller, 2012; Paloyo et al., 2013).
Möller (2012), der führende Experte zu dieser Problematik, wird hier richtig wiedergegeben. Er schreibt:
Als wesentliches Ergebnis aus den bisher vorliegenden Mindestlohnstudien für Deutschland ist festzuhalten: Beschäftigungsverluste durch einen Mindestlohn sind weitgehend ausgeblieben. Insbesondere in Ostdeutschland lassen sich hingegen deutliche Effekte der Lohnuntergrenze auf die Lohnverteilung nachweisen.
Payolo et al. (2013) ist ein Editorial und bezüglich der  Problematik nichtssagend. Dennoch schließt, oder zumindest schreibt, der Sachverständigenrat:

Ein generelles Problem stellt dabei jedoch die Übertragbarkeit solch sektorspezifischer Ergebnisse auf die Folgen eines flächendeckenden Mindestlohns dar. Bei letzterem sind keine Ausweichreaktionen von Arbeitnehmern in andere Sektoren mehr möglich. Das wahrscheinliche Resultat sind eine Kompression der Lohnverteilung am unteren Rand und höhere Arbeitslosigkeit.
Dazu muß man anmerken: Die von Möller referierten Ergebnisse wurden ungeachtet der möglichen Ausweichreaktionen  gefunden, die im Prinzip zu verstärkt negativen sektoralen Beschäftigungswirkungen hätten führen können. Wie der Sachverständigenrat richtig bemerkt, bestehen diese Ausweichmöglichkeiten volkswirtschaftlich nicht, oder nur in geringerem Maße. Mithin müßten die sektorspezifischen Ergebnisse gegenüber den volkswirtschaftlich zu erwartenden ausgeprägtere negative Beschäftigungswirkungen aufweisen. Die Schlussfolgerung, daß auf volkswirtschaftlicher Ebene höhere Arbeitslosigkeit zu erwarten sei, ist im Rahmen dieser Argumentation falsch:  Dass in den Sektorstudien keine wesentlichen negativen Beschäftigungswirkungen gefunden wurden, gilt umso mehr für die Volkswirtschaft insgesamt. Mir ist rätselhaft wie eine solche fehlerhafte Argumentation in einer so wichtigen Frage durchgehen konnte.