Montag, 18. Februar 2013

Krugman und der Mindestlohn

In einem Beitrag aus dem Jahr 1994 hat Paul Krugman die "Krugman-Hypothese" formuliert, die bis heute im Hintergrund vieler Überlegungen steht. Sie besagt, dass der technische Fortschritt, den wir erleben, qualifikationsverzerrt ist (sogenannter "skill-biased technological change"). Die Krugman-Hypothese besagt, dass der technische Fortschritt zu einer erhöhten Nachfrage noch hochqualifizierten Arbeitskräften und zu einem geringeren Bedarf an weniger qualifizierten Arbeitskräften führt. Deshalb entsteht eine zunehmende Lohnspreizung: Die Spanne zwischen den hohen und den niedrigen Löhnen wächst stetig.

Die zunehmende Lohnspreizung ist etwas, was wir tatsächlich beobachten. Sie ist dramatisch. Ich selbst habe zwar damals die Erklärung der zunehmenden Lohnspreizung über qualifikationsverzerrten Fortschritt nie recht geglaubt, aus arbeitsmarkttheoretischer Sicht kritisiert  und später eine andere Theorie entwickelt, aber bleiben wir einmal bei Krugman's seinerzeitiger Überlegung. Sie diente ihm wesentlich dazu, die damalige unterschiedliche Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den USA und Europa verständlich zu machen.

Die Arbeitslosigkeit nahm damals in Europa  stetig zu, blieb aber in den USA auf einem "normalen" Niveau. Zugleich nahm die Lohnspreizung in den USA deutlich zu, was in Europa (damals) nicht in gleichem Ausmaß der Fall war. Krugmans Erklärung für diese Divergenz war, dass aufgrund des qualifikationsverzerrten technischen Fortschritts die Löhne der Hochqualifizierten zunehmen und die Löhne der Gerinqualifizierten abnehmen müßten, um den Arbeitsmarkt in allen Segmenten zu räumen. Wegen der relativ freien Arbeitsmärkte in den USA fanden diese Anpassungen dort auch statt, in den Wohlfahrtsstaaten Europas bestand aber eine effektive Untergrenze bei den Löhnen, sodass die Anpassung bei den Geringqualifizierten nicht erfolgen konnte. Die Löhne für die Geringqualifizierten konnten nicht so weit fallen, um auch in diesem Bereich Vollbeschäftigung zu sichern. Deshalb bildete sich, so Krugman, eine zunehmende Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten. Die Zunahme sei eine Mindestlohnarbeitslosigkeit. Er faßte seine These kurz und bündig in den Worten zusammen: "In Amerika gibt es im Supermarkt Mitarbeiter, die die Einkäufe in Tüten packen. Das ist zwar eine einfache Tätigkeit, die nicht sehr gut bezahlt wird. Aber es ist doch immer noch besser, als arbeitslos zu sein." (FAZ vom 14.10.1999; siehe auch meine seinerzeitige Stellungnahme dazu hier).

Die Krugman-These war die Grundlage für die unsäglichen Schröder-Reformen und wurde von der Fachwelt weitgehend unterstützt. Im Hamburger Appell aus dem Jahre 2005 forderte die überwältigende Mehrheit der deutschen Wirtschaftsprofessoren ein Festhalten an der Schröderschen Politik, was ja unter Merkel auch geschehen ist, aber vielleicht unter Schröder extremer und unsozialer ausgefallen wäre.

Die These wurde vornehmlich von Wissenschaftlern unterstützt, die keine spezifische Kenntnis von Arbeitsmarkttheorien hatten oder jedenfalls die Funktionsweise des Arbeitsmarktes völlig analog zur Funktion von Gütermärkten sahen. Das galt auch für Krugman. Ich habe diese These aus arbeitsmarkttheoretische Sicht stets für verfehlt gehalten uns kritisiert (z.B. hier und hier).

Mittlerweile hat Krugmans seine Einschätzung aber drastisch geändert. In seiner neuesten New York Times-Kolumne spricht er sich für eine Anhebung der Mindestlöhne in den USA aus. Dies würde die Nachfrage steigern und, wie empirische Studien zeigen, keine wesentlichen negativen Beschäftigungskonsequenzen haben.

Konsequent wie er ist fügt er dann an:
Warum ist das so? Das ist Gegenstand der aktuellen Forschung, aber ein Thema aller Erklärungen ist, dass Arbeiter keine Tonnen von Getreide sind, und auch keine Appartements in Manhattan. Sie sind Menschen. Die sozialen Interaktionen, die im Zusammenhand mit Einstellungen und Entlassungen (hiring and firing)  stattfinden sind notwendigerweise komplexer als die, die in normalen Gütermärkten auftreten. Ein Nebenergebnis dieser menschlichen Komplexität scheint zu sein, dass bescheidene Lohnsteigerungen für die Geringverdiener nicht notwendigerweise die Anzahl der Arbeitsplätze reduziert.
Das ist natürlich aus arbeitsmarkttheoretischer Sicht ziemlich schwammig und auch nicht ganz up-to-date. Auch sind diese Probleme seit langem schon Gegenstand der theoretischen Forschung, nicht nur neuerdings. Aber immerhin: Es wird zur Kenntnis genommen, dass der Arbeitsmarkt grundsätzlich anders funktioniert als irgendein Gütermarkt im Lehrbuch.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen