Dienstag, 22. November 2011

Die optimale Staatsverschuldung

Die optimale Neuverschuldung des Staates ergibt sich als Differenz zwischen den optimalen Staatsausgaben und den optimalen Staatseinnahmen.

Nur in Ausnahmefällen wird die optimale Neuverschuldung null sein.  In der Regel ist sie positiv oder negativ. Im Fall einer optimalen negativen Neuverschuldung würde man von einem optimalen Finanzierungsüberschuss sprechen ("Juliusturm").

Die optimale Staatsverschuldung ergibt sich aus der Summe der vergangenen Neuverschuldungen.  Auch die optimale Staatsverschuldung ist in der Regel nicht Null, sondern positiv oder negativ.

Die optimale Staatsverschuldung ist mithin kein Ziel an sich, sondern ergibt sich als Konsequenz einer optimalen Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates.

Verschiedene Ökonomen empfehlen dennoch einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Diejenigen, die mittels ökonomischer Theorien und Modelle argumentieren, ziehen Theorien heran, die von vornherein auf der Annahme beruhen, dass eine störungsfreie wirtschaftliche Entwicklung bei einem ausgeglichenen Staatshaushalt möglich ist. Das ist eine bloße Annahme, die die Empfehlung für einen ausgeglichenen Staatshaushalt bereits beinhaltet -- ein Taschenspielertrick. Andere Ökonomen argumentieren eher politisch: Sie wollen die Staatsausgaben und insbesondere den Sozialstaat einschränken und sehen die Schuldenbremse als Möglichkeit, dies zu erzwingen. Andere Ökonomen (aber auch Theologen und Philosophen)  ignorieren den Grundsatz einer funktionalen Finanzpolitik und sehen einen ausgeglichenen Staatshaushalt als Selbstzweck.

Mit der Schuldenbremse hat der ausgeglichene Staatshaushalt nunmehr Verfassungsrang. Unsere Verfassung schließt damit eine optimale Finanzpolitik explizit aus.

Wie bestimmen sich aber die optimalen Staatsausgaben und Staatseinnahmen?

Zunächst zu den optimalen Staatsausgaben. Der leitende Grundsatz ist hier, dass der Staat die Aufgaben übernehmen sollte, die er besser erfüllen kann als die Privatwirtschaft, wobei alle Vor- und Nachteile der alternativen Organisationsformen zu berücksichtigen sind, also sowohl Staatsversagen wie auch Marktversagen. Manche Aufgaben kann der Staat billiger und effektiver organisieren als der Markt, etwa im Bereich der Ausbildung, der Gesundheitspflege, der Altersvorsorge oder der Verteidigung. Aber letztlich ist die Entscheidung darüber demokratisch zu treffen, wobei natürlich die ökonomischen Gesichtspunkte von zentraler Bedeutung sind. Ist diese Entscheidung getroffen, so steht fest, welche Ressourcen für die staatliche Aktivität und welche für die private Aktivität zur Verfügung stehen.

Nun zu den optimalen Staatseinnahmen. Hier geht es darum, die Ressourcen, die für private Aktivität zur Verfügung stehen, möglichst vollständig und effizient zu nutzen.  Bei zu geringer Güternachfrage kann durch die Geldpolitik das Zinsniveau gesenkt werden um die Güternachfrage anzuregen. Falls dies nicht ausreicht (in einer Rezession der typische Fall) muss das verfügbare Einkommen der Privaten erhöht werden. So kann bewirkt werden, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen voll genutzt werden. Das verfügbare Einkommen kann durch Senkung der Steuern erhöht werden. Umgekehrt müssen für den Fall, dass die Privaten mehr Ressourcen beanspruchen als ihnen angesichts der (optimalen) Staatsausgaben zur Verfügung steht, die Zinsen erhöht und die verfügbaren Einkommen mittels Steuererhöhungen eingeschränkt werden. Ansonsten wird Inflation einsetzen.

Was geschieht nun aber mit der daraus resultierenden Staatsverschuldung?  Die einfache Antwort ist: Das Verhältnis von Staatsschuld zum Bruttoinlandsprodukt stabilisiert sich auf einem bestimmten Verhältnis zum Produktionspotential. Dieses Verhältnis ergibt sich aus dem Spar- und Investitionsverhalten der Privaten, dem Außenbeitrag und dem Verhältnis von optimalen Staatsausgaben zu Produktionspotential. Die langfristige optimale Staatsschuld wird umso höher sein
  • Je höher die Sparquote der Privaten ist,
  • je geringer der Außenhandelsüberschuss ist,
  • je geringer die Quote von Staatsausgaben zu Produktionspotential ist (je weniger der Staat ausgibt).
Außerdem ergibt sich:
  • Je höher die Staatsausgaben, um so höher muss die Besteuerung sein.
Dies aber nicht deshalb, weil die Staatsausgaben "finanziert" werden müssen, sondern allein deshalb, weil bei hoher Staatsnachfrage die private Nachfrage entsprechend eingeschränkt werden muss. Die Funktion der Besteuerung ist, die private Nachfrage zu steuern, nicht die Staatsausgaben zu "finanzieren."

Gleichermaßen gilt:
  • Je höher der Exportüberschuss, um so höher muss die Besteuerung sein.
Der Grund ist wieder, dass die Güternachfrage aus dem Inland umso stärker eingeschränkt werden muss, je mehr Nachfrage aus dem Ausland entfaltet wird.

Da bei höheren Staatsausgaben die Besteuerung höher ausfallen muss und zugleich die Staatsschuld geringer ausfallen wird, ergibt sich zudem der Zusammenhang:
  • Bei geringeren Staatsausgaben muss die optimale Staatsverschuldung höher sein als bei höheren Staatsausgaben.
Einzelheiten und Simulationen finden sich in meinem Beitrag zu diesem Thema.


Fragen und Antworten: Hier nun noch Bemerkungen zu einigen Fragen. (Wenn interessante Fragen gestellt werden, werde ich die Liste ergänzen.)

Frage: Der Staat muss seine Schulden ja auch zurückzahlen. Heißt das nicht, dass zusätzliche schuldenfinanzierte Staatsausgaben heute zu zusätzlichen Staatsausgaben für Zinsen und Tilgung morgen und damit zu höheren Steuern morgen führen, mit entsprechenden negativen Wirkungen auf die Güternachfrage und die Beschäftigung in der Zukunft?

Antwort: Drei Fälle müssen hier unterschieden werden.
1. Der Staat verschuldet sich bei der Zentralbank. Die Zinszahlungen, die der Staat an die Zentralbank leistet, belasten den Staatshaushalt nicht, da sie Gewnne der Zentralbank darstellen. Diese Gewinne werden an den Staatshaushalt als zusätzliche Staatseinnahmen überwiesen. Entsprechend können Kredite an den Staat ohne jede Budgetbelastung stets verlängert werden. Im europäischen Kontext müssten sich sich die Regierungen bei der Europäischen Zentralbank verschulden. Das wirft einige Probleme auf, weil feste Verschuldungsgrenzen, wie im Vertrag von Maastricht vorgesehen,  eine optimale Politik ausschließen. Einfacher (und auf die Dauer unumgänglich) wäre, die Finanzpolitik europäisch zu organisieren und die europäischen Staaten ähnlich zu behandeln, wie dies gegenwärtig in der Budesrepublik bezüglich der Länder geregelt ist.
2. Der Staat verschuldet sich bei den Privaten. Zinsen und Tilgung gehen dann an die Privaten. Hier ist zu berücksichtigen dass Nettoneuverschuldung bei einer hohen Staatsschuld höher sein kann als bei einer niedrigen Staatsschuld, wenn das Verhältnis von Staatsschuld zu Produktionspotential konstant bleibt  (was sich langfristig immer einspielt).  So kann bei einer Staatsschuld von 100 €, die jährlich um zwei Prozent wächst, die Nettoneuverschuldung  2 € betragen, für eine Staatsschuld von 200 € aber 4 €. (Zu jeder Höhe der Nettoneuverschuldung ergibt sich durch diesen Mechanismus ein gewisser Schuldenstand. Die grundsätzliche Überlegung dazu stammt von Evsey Domar (1944)). Wegen dieses und einer Reihe weitere Mechanismen, die ebenfalls stabilisierend wirken, ist eine dauerhafte Staatsverschuldung nachfragewirksam. So führen höhere Zinsausgaben des Staates an die Privaten, wie sie mit einer höheren Staatsverschuldung einhergehen, aufgrund der zusätzlichen Zinseinkommen zu höheren Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Ferner stellen die Staatspapiere für die Privaten, die die Staatsschuld halten, Vermögen dar, was die Güternachfrage stimuliert und dem Staat erlaubt, die Steuern zu erhöhen um die Güternachfrage auf dem optimalen Niveau zu halten. (Für die Spezialisten: Diese Mechanismen verletzen die sogenannte Ricardianischen Äquivalenz nicht.)
3. Der Staat verschuldet sich im Ausland. Dieser Fall ist ähnlich wie Fall 2 (Verschuldung bei den Privaten), nur dass die oben genannten zusätzlichen Mechanismen entfallen, mit der Konsequenz, dass die Steuerbelastung, die zur Gütermarkträumung führt, höher ausfällt als in den anderen beiden Fällen.

Frage: Der Vertrag von Maastricht schließt eine optimale Finanzpolitik aus. Was bewirkt er dann?
Antwort: Da die gleichgewichtige Schuldenquote mit  höherer Staatsquote geringer wird und für den Fall, dass eine langfriste Staatsverschuldung über dem in Masstricht festgelegten Niveau von 60% des Bruttoinlandsprodukts notwendig ist, erzwingt die Einhaltung dieser Schuldenquote auf die Dauer einen Anstieg der Staatsquote. Der Vertrag von Maastricht erzwingt also, wenn er greift, eine höheren Staatsanteil und eine höhere Besteuerung als optimal wäre.

Frage: Wie soll das alles in Europa funktionieren?
Antwort:  Es muss ein europäisches Finanzministerium eingerichtet werden. Ein Teil der Einkommenssteuer wird von diesem Ministerium erhoben, der andere Teil fließt an die Mitgliedsstaaten. Diese können ihren Teil unterschiedlich gestalten. Sie können nicht mehr ausgeben als sie einnehmen. Jede Verschuldung eines einzelnen Staates führt zu automatischen Erhöhungen des Einkommenssteuersatzes, sodass stets ein ausgeglichenes Budget garantiert ist (Schweizer Schuldenbremse).  Die im Sinne einer optimalen Steuerpolitik erforderlichen Steuererhöhungen oder Steuerentlastungen werden über den europäischen Teil der Einkommenssteuer realisiert. Es gibt also nur auf europäischer Ebene Überschüsse oder Defizite, nicht auf der Ebene der Mitgliedsstaaten. Die Defizite werden durch Kredite der Europäischen Zentralbank finanziert.


Frage: Die wirtschaftliche Lage in den verschiedenen Mitgliedsstaaten kann völlig unterschiedlich sein und würde unterschiedliche zusätzliche Besteuerung oder Steuerentlastung notwendig machen. Wie können die regionalen Disparitäten ausgeglichen werden?
Antwort: Durch Länderfinanzausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten, ähnlich wie gegenwärtig zwischen den Bundesländern der Bundesrepublik sowie durch regionale Lohnindexierung.








Montag, 14. November 2011

Die Idee der funktionalen staatlichen Finanzpolitik

Der Ausgangspunkt einer rationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist von Abba Lerner 1943 wie folgt formuliert worden:
Der Grundsatz ist, dass die staatliche Finanzpolitik -- die Staatsausgaben, die Bestreuerung, die Neuverschuldung und die Tilgung von Staatsschulden, die Geldschöpfung und der Entzug von Geld aus dem Wirtschaftskreislauf -- dass all dies allein in Hinblick auf das Ergebnis dieser Maßnahmen beurteilt wird und nicht danach, ob irgendwelchen traditionellen Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Finanzpolitik entsprochen wird.
Die öffentliche Diskussion über Besteuerung sollte diesen Gedanken besser berücksichtigen. Es bleibt oft unerwähnt, dass die Wirtschaftswissenschaft nur wenig zur Frage beigetragen hat, welche Staatsverschuldung (oder welcher dauerhafte Überschuss bei den Staatsfinanzen) anzustreben ist.

Die Idee, daß der Staatshaushalt langfristig ausgeglichen sein sollte, entbehrt jeder wissenschaftlichen Begründung. In wirtschaftswissenschaftlichen Modellen wird lediglich oft die Annahme gemacht, dass Vollauslastung aller Ressourcen bei ausgeglichenem Staatshaushalt möglich sei. Tatsächlich kann aber ein ausgeglichener Staatshaushalt eine Vollauslastung der Ressourcen, und damit Vollbeschäftigung unmöglich machen, oder unter Umständen, die dauerhafte Budgetüberschüsse erfordern, zu akzelerierender Inflation führen.

Aber selbst unter der Annahme, daß die Vollbeschäftigung aller Ressourcen bei Preisstabilität erreicht ist, ist die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, wie sie nunmehr sogar grundgesetzlich geboten ist, wirtschaftlich unvernünftig.

In  Artikel 115 Absatz 1 Satz 2 des Grund­gesetzes alter Fassung hieß es
Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushalts­plan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamt­wirtschaft­lichen Gleich­gewichts.
Das ist insofern eine sinnvolle Regelung, als sie die Kosten für Investitionen über den Zeitraum verteil, in dem die Investitionen genutzt werden.

Nunmehr heißt es statt dessen:
Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.
Soetwas meinte Lerner mit "traditionellen Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Finanzpolitik". Hier erhält ein unbegründetes Vorurteil, oder meinetwegen eine unnbegrüpndete Theorie, Verfassungsrang! Diese Regelung entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage und resultiert allein aus einem Mißtrauen gegenüber den verantwortlichen Politikern, oder sogar der Überzeugung, daß Politiker immer falsch entscheiden -- eine sonderbare Haltung in einer Demokratie. Aber natürlich entscheiden die Politiker manchmal falsch, z.B. wenn sie die Schuldenbremse ins Grundgesetz schreiben.