Samstag, 24. Dezember 2011

Hirschmans Prinzip der verbergenden Hand und der Euro

Albert Hirschman hat darauf hingewiesen, das viele erfolgreiche Projekte in Entwicklungsländern nicht in Angriff genommen worden wären, wenn man die Schwierigkeiten vorausgesehen hätte, die tatsächlich aufgetreten sind und die letzten Endes bewältigt wurden. Er nennt das, in Anspielung an Adam Smith's "unsichtbare Hand", das "Prinzip der verbergenden Hand" und  und charakterisiert dies wie folgt:
Wenn die Planer eines Entwicklungsprojektes im voraus um all die Schwierigkeiten gewußt hätten, die auftreten könnten und aufgetreten sind, hätten sie das Projekt wohl nie in Angriff genommen .... In einigen, wenn auch gewiss nicht allen, Fällen wäre ein solches Wissen nachteilig gewesen, denn die auftauchenden Probleme haben Lösungen induziert die letztlich nicht nur das Projekt gerettet, sondern über alle Erwartungen hinaus erfolgreich gemacht haben.
Hirschman gibt dazu bemerkenswerte Beispiele aus der Entwicklungsökonomik. Ich hoffe, dass das Projekt einer einheitlichen europäischen Währung  in zwanzig Jahren als weiteres Beispiel für Hirschmans Prinzip der verbergenden Hand herangezogen werden kann. Ausgeschlossen ist das nicht, aber es wird nur möglich sein, wenn wir den Mut haben, neue Lösungen zu finden -- insbesondere für die Strukturkrise in Euroraum.

Wie Hirschman eindrucksvoll bemerkt, liegt der Schlüssel in der menschlichen Kreativität
Kreativität ist notwendigerweise nicht vorhersehbar. Deshalb scheuen wir uns auf Krewativität zu bauener und können auch nicht im voraus auf Kreativität vertrauen.  Anders ausgedrückt, wir würden nicht auf den Erfolg von Projekten setzen deren Erfolg offensichtlich von der Entfaltung einer solchen Kreativität abhängt.
Die Rezttung des Euro scheint eine derartige Kreativiträt zu erfordern. Ohne sie wird das Projekt wohl leider scheitern. Sture Regeln wie Maastricht bieten geradezu eine Garantie für ein solches Scheitern, aber Hirschman lässt uns hoffen.
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Donnerstag, 22. Dezember 2011

Der Zeitraum für Budgetausgleich

Zur antizyklischen Fiskalpolitik hat Abba Lerner völlig überzeugend klargestellt:
Es besteht genau so wenig Grund für die Annahme, dass die Staatsausgaben und die Staatseinnahmen, die Vollbeschäftigung sichern und Inflation vermeiden, sich über ein Jahrzehnt hinweg entsprechen sollten, wie über ein Jahr hinweg, oder über vierzehn Tage.
Nun ja, vielleicht hat Lerner die "tiefen" Gründe für derartige Vorschriften nicht gesehen, aber diejenigen, die solche Forderungen erheben (und gar mit Festsetzung der Jahresfrist ins Grundgesetz schreiben) sollten sich doch bitte um eine entsprechende Begründung bemühen. Immerhin handelt es sich um das Grundgesetz....

Dienstag, 20. Dezember 2011

Die ökonomische Funktion des Zinsniveaus

Paul Krugman setzt sich in seinem heutigen Blog  mit dem öfters zu vernehmenden Argument auseinander, dass niedrige Zinsen die Kreditversorgung bremsen, weil die Banken dann weniger interessiert sind, Geld zu verleihen. Er bemerkt zutreffend, dass ein niedriges Zinsniveau sich auf sichere Anlagen bezieht und die Banken frei sind, höhere Zinsen zu verlangen, um das Risiko von weniger sicheren Anlagen abzudecken. Sie tun das auch. Ein niedriges Zinsniveau setzt einen Mindestpreis für das Verleihen, keinen Höchstpreis. Deshalb besteht kein Grund, mangelnde Markträumung auf dem Kreditmarkt wegen zu niedriger Zinsen zu erwarten.

Krugman fährt nun aber fort -- und hier habe ich meine Probleme:
Der "natürliche" Zinssatz im ökonomischen Sinne -- der Zinssatz, bei dem die gewünschte Ersparnis bei Vollbeschäftigung gleich der gewünschten Investition bei Vollbeschäftigung ist, ist [in der gegenwärtigen Situation] negativ.
Das ist nun aber alles andere als klar. Ich verstehe das so: Die Funktion des Zinses ist, gewünschte Investition und gewünschte Ersparnis anzugleichen. Dazu wäre in der gegenwärtigen Situation ein negativer Zins erforderlich. Das ist aber nicht möglich, weil man ja bei Preisstabilität einfach Geld halten kann statt es zu negativem Zins zu verleihen.

Allerdings hat das nichts mit Vollbeschäftigung zu tun. Der markträumende Zins bei Vollbeschäftigung kann völlig anders sein als der markträumende Zins bei Unterbeschäftigung.

Aber noch etwas grundsätzliches zur Funktion des Zinsniveaus (leider ziemlich schwierig zu erklären und wohl auch zu verstehen). Es ist problematisch, wenn nicht abwegig, die Funktion des Zinses in der Gütermarkträumung zu sehen. Der Zinssatz soll sich, ökonomisch gesprochen, aus der Zeitpräferenz der Wirtschaftssubjekte einerseits und der höheren Produktivität längerer Produktionsumwege andererseits ergeben. Es gibt dabei keinen Grund anzunehmen, dass diese Faktoren konjunkturell in dem Ausmaß schwanken, wie zur permanenten Vollbeschäftigung erforderlich wäre.

Tatsächlich erzeugen Zinsänderungen massive Strukturverschiebungen, die unter Allokationsgesichtspunkten ineffizient sind. Manche Branchen (Hochbau, Tiefbau, Schiffsbau) sind sehr zinsabhängig, andere (insbesondere Risikobranchen) nur geringfügig. Es ist aber bedenklich, die Güternachfrage insgesamt vornehmlich über die Baunachfrage und damit über eine stets schwankende Größe des Bausektors zu steuern. Die wesentliche Funktion des Zinsniveaus liegt vielmehr darin, die Verfahrenswahl richtig zu steuern, denn bei einem niedrigen Zinsniveau wird man eher kapitalintensiv produzieren, bei einem hohen Zinsniveau tendenziell mit geringerem Kapitaleinsatz und höherem Arbeitseinsatz. Dieser Aspekt wird von Keynesianern (wie hier auch von Krugman) oft vernachlässigt, ist aber m.E. sehr wichtig.

In der neuen klassischen Makroökonomik wird dieser Gesichtspunkt zwar betont, es wird dann aber im Widerspruch zu diesem Grundgedanken Konjunktursteuerung allein über Geldpolitik empfohlen. Konsequenterweise sollte man vielmehr gerade aus der oben erwähnten Allokationsperspektive eher auf Mengensteuerung (Nachfragesteuerung mittels Staatseinnahmen und Staatsausgaben) setzen und nicht primär auf Preissteuerung mittels Zinsniveauänderungen. Siehe dazu auch hier (pdf). Aber dies ist eine Problematik die m.W. in der Volkswirtschaftslehre kaum behandelt, geschweige denn theoretisch hinreichend durchdrungen ist.

Postskript: Vielleicht sollte ich nicht unerwähnt lassen, dass Krugman in seinem Beitrag einen Kommentar von Bill Gross kritisiert.  Man sieht wieder einmal: Finanzexperten, die mit Geldgeschäften Milliarden gemacht haben, machen bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher Zusammenhänge die elementarsten Schnitzer. Ich selbst habe das verschiedentlich live erlebt.  Lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Traurig, weil sie viel Einfluss haben. Ihr Geld ist mir egal.

Sonntag, 18. Dezember 2011

Die Schuldenbremse schützt nicht vor Inflation

Die Problematik einer Schuldenbremse lässt sich vielleicht auch deutlich machen, wenn man sich eine andere konjunkturelle Situation als die gegenwärtige vor Augen führt.

Wenn die Sparneigung der Haushalte sehr gering ist und mithin fast alles verfügbare Einkommen zu Konsumzwecken ausgegeben wird, bleibt nicht hinreichend viel für die Investition. Wenn der Staatshaushalt ausgeglichen ist und die Unternehmungen investieren wollen, um ihre Produktionskapazitäten zu erhalten und zu modernisieren, wird mehr nachgefragt als produziert werden kann. Das führt zu Übernachfrage nach Gütern und Arbeitskräften, und damit zu Lohn-und Preissteigerungen, zu Inflation.

Erforderlich wäre in einer solchen Lage, dass der Staat Überschüsse macht, also staatliche Ersparnis bildet, indem er die Steuern erhöht, aber die zusätzlichen Einnahmen nicht ausgibt. Man sagt dann im Fachjargon, dass die Investitionen durch staatliche Ersparnis finanziert werden. Ein ausgeglichener Staatshaushalt wäre in einer solchen Situation inflationär. In einer Situation zu hoher Nachfrage wäre ein Überschussverbot das Analogon zu dem, was eine Schuldenbremse bei Nachfragemangel ist -- beides gleichermaßen unsinnig.

Gegenwärtig haben wir in Europa nun keinen Nachfrageüberhang, sondern einen Nachfragemangel. Das erfordert Steuersenkungen oder erhöhte Sozialtransfers, die mit Defiziten verbunden sind, oder aber expansiv wirkende öffentliche Investitionen, die ebenfalls zu Haushaltsdefiziten führen. Die Schuldenbremse macht all dies unmöglich und erzwingt Stagnation

Mithin: Rationale Finanzpolitik sollte sich nach den jeweiligen wirtschaftlichen Erfordernissen richten, die von Fall zu Fall verschieden sein können, und nicht nach willkürlichen Regeln, die auf fragwürdigen Argumenten beruhen (und dann noch in die Verfassung geschrieben werden!).

Freitag, 16. Dezember 2011

Geballter Schwachsinn

Der Newsletter vom Handelsblatt schreibt:
der Philosoph Peter Sloterdijk ist ein Mann mit ungewöhnlichen, aber keineswegs unvernünftigen Ansichten. Wir haben mit ihm über westliche Staatsschulden und die Suche nach einer neuen Ethik in Zeiten der globalen Vertrauenskrise gesprochen. Er geht hart mit unseren Regierungen ins Gericht, wenn er sagt: "Die Regierungen verpfänden die Luft über ihrem Staatsgebiet und Banken atmen tief durch." Er beschreibt unbequeme Wahrheiten: "Nicht mehr die Kanone ist die Ultima Ratio der Staaten, sondern der Bankrott." Und er spricht die Banken frei von der Schuld an der Staatsschuldenkrise: "Zunächst einmal ist der Schuldner der Schuldige." Wir haben diesem ungewöhnlichen Mann mit acht Zeitungsseiten in der heutigen Wochenendausgabe ungewöhnlich viel Platz eingeräumt.
Kein einziges sinnvolles ökonomisches Argument, und das Handelsblatt pflichtet ihm bei! Dabei dachte ich immer das Handelsblatt wäre in seinen Kommentaren zumindest eingeschränkt rational"!


Nachtrag (17.12.2011): Sorry, ich war wohl spontan etwas ärgerlich über das Handelsblatt (nicht über Sloterdijk). In Zukunft werde ich solche Ausfälle vermeiden.

Wege aus der europäischen Strukturkrise

Alan Blinder (via Mark Thoma und Tom Duy) macht auf die  fundamentalen Verzerrungen innerhalb der Eurozone aufmerksam und listet die Möglichkeiten auf, die zur Lösung der innereuropäischen Strukturkrise bestehen:
Die gemeinsame europäische Währung hat tatsächlich zwei gigantische Probleme. Die Finanzkrise beansprucht wegen ihrer unmittelbaren Aktualität alle Aufmerksamkeit [... ]  aber das andere sich langsamer entwickelnde Problem -- Verschiebungen der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone -- ist bei weitem schwerer zu bekämpfen.
Um die Wettbwerbsfähigkeit der anderen Euro-Länder gegenüber Deutschland wieder herzustellen, bestehen drei Möglichkeiten -- und man  man bedenke, die Kluft ist gewaltig:
Erstens könnte Deutschland mehr Inflation zulassen als die Parnerländer im Euro-Raum, beispielsweise durch expansive Fiskalpolitik und und eine Beendigung der Lohnzurückhaltung. Das ist in Deutschland kaum denkbar.
Zweitens könnten die anderen Länder durch Strukturreformen Produktivitätswunder vollbringen, während Deutschland relativ zurückfällt. Viel Glück dabei. Und falls das irgendwie geschehen kann, ist der Zeitrahmen völlig falsch. Reformen tragen erst nach Jahren Früchte, während die Finanzmärkte die Zeit in Sekunden zählen.
Drittens könnten die anderen Länder Deflationspolitik betreiben, mit Lohn- und Preisrückgängen über einen längeren Zeitraum. Dies ist unglaublich schwer zu erreichen und extrem schmerzhaft -- und passiert eigentlich nur in sehr langen Rezessionen. Leider ist dies der wahrscheinlichste Weg.
Vielleicht sollte dabei klargestellt werden, dass die Wettbewerbsposition Deutschlands nicht primär auf einem Produktivitätswunder beruht, sondern auf der Lohnzurückhaltung in Deutschland relativ zu den Partnerländern. Ich habe in einem früheren Blog darauf hingewiesen und dort auch die regionale Lohnindexierung als vierte Möglichkeit zur Lösung der Strukturkrise erwähnt.

Dienstag, 13. Dezember 2011

Der europäische Instabilitäts- und Stagnationspakt

Antonio Fatas (via Mark Thoma) bringt die neuesten Entwicklungen auf den Punkt:
Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt bewirkt das genaue Gegenteil von dem, was der Name suggeriert: Instabilität und Stagnation.
In Europa als ganzem ist die Nachfrage zu gering. Die verschärften Sparnahmen dämpfen die Nachfrage weiter.  Sie reduzieren die wirtschaftliche Aktivität und damit die  Einkommen und die Steuereinnahmen und sie machen erhöhte Sozialtransfers notwendig. In diesem Sinne erzeugen sie Instabilität und Stagnation. Die Ratio ist wohl, dass das zugrunde liegende Strukturproblem, sprich die mangelnde Harmonisierung  der Lohnkosten in Europa, durch Arbeitslosigkeit  bekämpft werden soll. Das ist inhuman und unökonomisch, denn das lässt sich ohne Arbeitslosigkeit und Stagnation erreichen.

Samstag, 10. Dezember 2011

A propos falsche Medizin

Gregory Clark bemerkt zu diesem Thema:
Ähnlich wie Ärzte in eine vorwissenschaftlichen Zeit für alle Krankheiten, die sie nicht verstanden, Aderlass verschrieben, empfehlen die modernen ökonomischen Ärzte Jahr für Jahr die gleiche unwirksame Medizin.... Wenn sie nicht wirkt, bleibt als einziger Schluß, dass wohl eine noch höhere Dosis erforderlich ist.

Die falsche Medizin


Paul Krugman weist auf einen interessanten Sinneswandel beim Wall Street Journal hin. Die Zeitung, bislang ein bedingungsloser Gegner jeglicher Staatsverschuldung, schreibt nunmehr:
Wenn die Staatsverschuldung der Maßstab ist, ist Spanien ein Muster an Tugendhaftigkeit. Die Spanier nahmen nur wenig Kredit auf, obgleich ihre Mitgliedschaft in der Eurozone es ihnen ermöglicht hätte, sich beliebig zu verschulden, und das zu Spottzinsen.
Während Europa um eine Lösung der Schuldenkrise kämpft, die die Weltwirtschaft bedroht, ist von zentraler Bedeutung, daß wir verstehen, was tatsächlich in Ländern wie Spanien passiert. Andernfalls werden die verantwortlichen Politiker die falsche Medizin verschreiben -- mit  katastrophalen Folgen.
Die Schuldenbremsen für Europa  sind die falsche Medizin. Die Staatsverschuldung ist nicht die Ursache der Schwierigkeiten, lediglich ein Symptom. Die Verzerrungen in den Lohnkosten im Euroraum sind von größerer Bedeutung.

Sonntag, 4. Dezember 2011

Der Krugman-Blog

Der Krugman-Blog ist immer lesenswert. Dem Verfasser gelingt es, wirtschaftspolitische Zusammenhänge für den Laien verständlich darzustellen. Er scheut sich auch nicht, immer wieder auf elementare Sachverhalte hinzuweisen und sich mit den schwachsinnigsten Argumenten auseinanderzusetzen, egal ob sie von sachverständigen oder weniger sachverständigen Meinungsmachern stammen. Natürlich hat er (meiner Meinung nach) nicht immer recht, aber meistens. Und das Wichtigste: Er verwendet Argumente. (Das ist normalerweise nicht der Fall, siehe z.B. hier, ein ganzer Beitrag ohne jedes Argument, fast schon eine Kunst). Allerdings ist der Krugman-Blog nicht mehr offen wie früher, sondern wird nach einigen Besuchen gebührenpflichtig. Man kann ihn aber immer von Twitter aus erreichen. Man suche dort nach "NYTimeskrugman" (ohne Anführungsstriche).

Krugman zum Euro

Paul Krugman schreibt in seinem Blog vom 1. Dezember zum gegenwärtigen Euro-Problem:
Wie konnte alles so schief gehen? Die Antwort, die man andauernd hört ist, dass die Euro-Krise durch unverantwortliche Staatsfinanzierung verursacht worden ist. ...  Aber in Wahrheit ist es fast umgekehrt. Obgleich die europäische Elite darauf beharrt dass zu hohe Staatsausgaben der Schuldnerländer  die Ursache allen Übels sind, liegt das wahre Problem darin, dass in Europa als ganzem zu wenig ausgegeben wird. Die Anstrengungen der europäischen Verantwortlichen, das Problem durch weitere restriktive Maßnahmen zu lösen hat wesentlich dazu beigetragen, die Lage noch weiter zu verschlechtern.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Leider.


Freitag, 2. Dezember 2011

Regionale Lohnindexierung als Äquivalent zu anpassungsfähigen Wechselkursen im Euro-Raum

Wenn man die Lohnentwicklungen seit der Etablierung der Eurozone 1991 bis heute in verschiedenen Ländern vergleicht, ergibt sich ein dramatisches  Bild:

Quelle: Ameco

Die Lohnsteigerungen in Griechenland betrugen in diesem Zeitraum 237%, die Lohnsteigerungen in Deutschland dagegen 48%. Kein Wunder, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands verschlechtert hat und sich die Exportsituation Deutschlands (vor allem nach Europa) zunehmend verbessert.

Hätten wir den Euro nicht, sondern variable Wechselkurse, so wären derartige Fehlentwicklungen durch Marktkräfte korrigiert worden: Die griechische Währung wäre gegenüber der DM abgewertet worden und die griechische Wettbewerbsfähigkeit wäre auf diese Weise erhalten geblieben. Ähnliches ließe sich für die anderen Länder der Eurozone sagen.

Derartige Wechselkursänderungen waren vor der Einführung des Euro normal. Deutschland hatte stets geringere Lohnsteigerungen als die meisten anderen Länder (meiner Meinung nach wegen des Systems der Flächentarifverträge, aber die Ursache ist ja in diesem Zusammenhang egal). Entsprechend wurde die Deutsche Mark laufend gegenüber den anderen Währungen aufgewertet und massive Fehlentwicklungen der Art, wie wir sie jetzt sehen, wurden so korrigiert. Auf dieses Problem ist schon bei der Einführung des Euro nachdrücklich hingewiesen worden. Insbesondere Heiner Flassbeck hat wiederholt gewarnt.

Nun soll die Lohnentwicklung in Griechenland über Arbeitslosigkeit gedämpft werden (Schröder-Therapie). Das ist ökonomisch (und moralisch) außerordentlich fragwürdig -- aber das ist ein anderes Thema.

Gehen wir einfach davon aus, dass die Lohnentwicklungen aufgrund der institutionellen Unterschiede in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfallen. Müssen wir dann den Euro aufgeben?

Die Antwort ist ein klares "Nein!" Wir können recht einfach die Wirkung variabler Wechselkurse in der Eurozone simulieren, wenn wir festlegen, dass alle Arbeitsverträge in einer lokalen Recheneinheit abzuschließen sind. (Den Vorschlag habe ich 1995 gemacht.) Nennen wir die Recheneinheit, in der Arbeitsverträge abgeschlossen werden müssen, für Griechenland  Drachme,  für Frankreich Franc, usw. Die Wechselkurse dieser Rechnungseinheiten zum Euro werden durch eine Europäische Institution festgelegt. Die Löhne werden dann nach entsprechender Umrechnung in Euro gezahlt. Die einheitliche Währung bleibt erhalten und die Kostensituation in den verschiedenen Euro-Regionen wird angeglichen, auch ohne die (schwer zu erreichende) Vereinheitlichung der Arbeitsmärkte. Arbeitslosigkeit zur Lohnkontrolle wird überflüssig. So kann das erreicht werden, was gegenwärtig durch Arbeitslosigkeit bewirkt werden soll, nur ohne Arbeitslosigkeit. (Genaueres dazu in meinem Vorschlag von 1994 zur Bekämpfung der Stagflation .
Der Gedanke lässt sich aber allgemein auf Fehlentwicklungen in Arbeitsmärkten anwenden, die von der dezentralen Lohnsetzung herrühren.)

Die Regionen für die verschiedenen Lohneinheiten sollten sich dabei nicht an Ländergrenzen, sondern an ökonomischen Gesichtspunkten orientieren. In Italien könnte es beispielsweise eine Nord-Lira und ein Süd-Lira geben, oder in Deutschland eine West-Mark und eine Ost-Mark. Auf diese Weise könnten regionale Disparitäten, etwa zwischen Norditalien und Süditalien, ausgeglichen werden, die ungeachtet aller Vereinheitlichungen und Flexibilisierungen fortbestehen und große ökonomische und soziale Kosten verursachen.



Dienstag, 22. November 2011

Die optimale Staatsverschuldung

Die optimale Neuverschuldung des Staates ergibt sich als Differenz zwischen den optimalen Staatsausgaben und den optimalen Staatseinnahmen.

Nur in Ausnahmefällen wird die optimale Neuverschuldung null sein.  In der Regel ist sie positiv oder negativ. Im Fall einer optimalen negativen Neuverschuldung würde man von einem optimalen Finanzierungsüberschuss sprechen ("Juliusturm").

Die optimale Staatsverschuldung ergibt sich aus der Summe der vergangenen Neuverschuldungen.  Auch die optimale Staatsverschuldung ist in der Regel nicht Null, sondern positiv oder negativ.

Die optimale Staatsverschuldung ist mithin kein Ziel an sich, sondern ergibt sich als Konsequenz einer optimalen Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates.

Verschiedene Ökonomen empfehlen dennoch einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Diejenigen, die mittels ökonomischer Theorien und Modelle argumentieren, ziehen Theorien heran, die von vornherein auf der Annahme beruhen, dass eine störungsfreie wirtschaftliche Entwicklung bei einem ausgeglichenen Staatshaushalt möglich ist. Das ist eine bloße Annahme, die die Empfehlung für einen ausgeglichenen Staatshaushalt bereits beinhaltet -- ein Taschenspielertrick. Andere Ökonomen argumentieren eher politisch: Sie wollen die Staatsausgaben und insbesondere den Sozialstaat einschränken und sehen die Schuldenbremse als Möglichkeit, dies zu erzwingen. Andere Ökonomen (aber auch Theologen und Philosophen)  ignorieren den Grundsatz einer funktionalen Finanzpolitik und sehen einen ausgeglichenen Staatshaushalt als Selbstzweck.

Mit der Schuldenbremse hat der ausgeglichene Staatshaushalt nunmehr Verfassungsrang. Unsere Verfassung schließt damit eine optimale Finanzpolitik explizit aus.

Wie bestimmen sich aber die optimalen Staatsausgaben und Staatseinnahmen?

Zunächst zu den optimalen Staatsausgaben. Der leitende Grundsatz ist hier, dass der Staat die Aufgaben übernehmen sollte, die er besser erfüllen kann als die Privatwirtschaft, wobei alle Vor- und Nachteile der alternativen Organisationsformen zu berücksichtigen sind, also sowohl Staatsversagen wie auch Marktversagen. Manche Aufgaben kann der Staat billiger und effektiver organisieren als der Markt, etwa im Bereich der Ausbildung, der Gesundheitspflege, der Altersvorsorge oder der Verteidigung. Aber letztlich ist die Entscheidung darüber demokratisch zu treffen, wobei natürlich die ökonomischen Gesichtspunkte von zentraler Bedeutung sind. Ist diese Entscheidung getroffen, so steht fest, welche Ressourcen für die staatliche Aktivität und welche für die private Aktivität zur Verfügung stehen.

Nun zu den optimalen Staatseinnahmen. Hier geht es darum, die Ressourcen, die für private Aktivität zur Verfügung stehen, möglichst vollständig und effizient zu nutzen.  Bei zu geringer Güternachfrage kann durch die Geldpolitik das Zinsniveau gesenkt werden um die Güternachfrage anzuregen. Falls dies nicht ausreicht (in einer Rezession der typische Fall) muss das verfügbare Einkommen der Privaten erhöht werden. So kann bewirkt werden, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen voll genutzt werden. Das verfügbare Einkommen kann durch Senkung der Steuern erhöht werden. Umgekehrt müssen für den Fall, dass die Privaten mehr Ressourcen beanspruchen als ihnen angesichts der (optimalen) Staatsausgaben zur Verfügung steht, die Zinsen erhöht und die verfügbaren Einkommen mittels Steuererhöhungen eingeschränkt werden. Ansonsten wird Inflation einsetzen.

Was geschieht nun aber mit der daraus resultierenden Staatsverschuldung?  Die einfache Antwort ist: Das Verhältnis von Staatsschuld zum Bruttoinlandsprodukt stabilisiert sich auf einem bestimmten Verhältnis zum Produktionspotential. Dieses Verhältnis ergibt sich aus dem Spar- und Investitionsverhalten der Privaten, dem Außenbeitrag und dem Verhältnis von optimalen Staatsausgaben zu Produktionspotential. Die langfristige optimale Staatsschuld wird umso höher sein
  • Je höher die Sparquote der Privaten ist,
  • je geringer der Außenhandelsüberschuss ist,
  • je geringer die Quote von Staatsausgaben zu Produktionspotential ist (je weniger der Staat ausgibt).
Außerdem ergibt sich:
  • Je höher die Staatsausgaben, um so höher muss die Besteuerung sein.
Dies aber nicht deshalb, weil die Staatsausgaben "finanziert" werden müssen, sondern allein deshalb, weil bei hoher Staatsnachfrage die private Nachfrage entsprechend eingeschränkt werden muss. Die Funktion der Besteuerung ist, die private Nachfrage zu steuern, nicht die Staatsausgaben zu "finanzieren."

Gleichermaßen gilt:
  • Je höher der Exportüberschuss, um so höher muss die Besteuerung sein.
Der Grund ist wieder, dass die Güternachfrage aus dem Inland umso stärker eingeschränkt werden muss, je mehr Nachfrage aus dem Ausland entfaltet wird.

Da bei höheren Staatsausgaben die Besteuerung höher ausfallen muss und zugleich die Staatsschuld geringer ausfallen wird, ergibt sich zudem der Zusammenhang:
  • Bei geringeren Staatsausgaben muss die optimale Staatsverschuldung höher sein als bei höheren Staatsausgaben.
Einzelheiten und Simulationen finden sich in meinem Beitrag zu diesem Thema.


Fragen und Antworten: Hier nun noch Bemerkungen zu einigen Fragen. (Wenn interessante Fragen gestellt werden, werde ich die Liste ergänzen.)

Frage: Der Staat muss seine Schulden ja auch zurückzahlen. Heißt das nicht, dass zusätzliche schuldenfinanzierte Staatsausgaben heute zu zusätzlichen Staatsausgaben für Zinsen und Tilgung morgen und damit zu höheren Steuern morgen führen, mit entsprechenden negativen Wirkungen auf die Güternachfrage und die Beschäftigung in der Zukunft?

Antwort: Drei Fälle müssen hier unterschieden werden.
1. Der Staat verschuldet sich bei der Zentralbank. Die Zinszahlungen, die der Staat an die Zentralbank leistet, belasten den Staatshaushalt nicht, da sie Gewnne der Zentralbank darstellen. Diese Gewinne werden an den Staatshaushalt als zusätzliche Staatseinnahmen überwiesen. Entsprechend können Kredite an den Staat ohne jede Budgetbelastung stets verlängert werden. Im europäischen Kontext müssten sich sich die Regierungen bei der Europäischen Zentralbank verschulden. Das wirft einige Probleme auf, weil feste Verschuldungsgrenzen, wie im Vertrag von Maastricht vorgesehen,  eine optimale Politik ausschließen. Einfacher (und auf die Dauer unumgänglich) wäre, die Finanzpolitik europäisch zu organisieren und die europäischen Staaten ähnlich zu behandeln, wie dies gegenwärtig in der Budesrepublik bezüglich der Länder geregelt ist.
2. Der Staat verschuldet sich bei den Privaten. Zinsen und Tilgung gehen dann an die Privaten. Hier ist zu berücksichtigen dass Nettoneuverschuldung bei einer hohen Staatsschuld höher sein kann als bei einer niedrigen Staatsschuld, wenn das Verhältnis von Staatsschuld zu Produktionspotential konstant bleibt  (was sich langfristig immer einspielt).  So kann bei einer Staatsschuld von 100 €, die jährlich um zwei Prozent wächst, die Nettoneuverschuldung  2 € betragen, für eine Staatsschuld von 200 € aber 4 €. (Zu jeder Höhe der Nettoneuverschuldung ergibt sich durch diesen Mechanismus ein gewisser Schuldenstand. Die grundsätzliche Überlegung dazu stammt von Evsey Domar (1944)). Wegen dieses und einer Reihe weitere Mechanismen, die ebenfalls stabilisierend wirken, ist eine dauerhafte Staatsverschuldung nachfragewirksam. So führen höhere Zinsausgaben des Staates an die Privaten, wie sie mit einer höheren Staatsverschuldung einhergehen, aufgrund der zusätzlichen Zinseinkommen zu höheren Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Ferner stellen die Staatspapiere für die Privaten, die die Staatsschuld halten, Vermögen dar, was die Güternachfrage stimuliert und dem Staat erlaubt, die Steuern zu erhöhen um die Güternachfrage auf dem optimalen Niveau zu halten. (Für die Spezialisten: Diese Mechanismen verletzen die sogenannte Ricardianischen Äquivalenz nicht.)
3. Der Staat verschuldet sich im Ausland. Dieser Fall ist ähnlich wie Fall 2 (Verschuldung bei den Privaten), nur dass die oben genannten zusätzlichen Mechanismen entfallen, mit der Konsequenz, dass die Steuerbelastung, die zur Gütermarkträumung führt, höher ausfällt als in den anderen beiden Fällen.

Frage: Der Vertrag von Maastricht schließt eine optimale Finanzpolitik aus. Was bewirkt er dann?
Antwort: Da die gleichgewichtige Schuldenquote mit  höherer Staatsquote geringer wird und für den Fall, dass eine langfriste Staatsverschuldung über dem in Masstricht festgelegten Niveau von 60% des Bruttoinlandsprodukts notwendig ist, erzwingt die Einhaltung dieser Schuldenquote auf die Dauer einen Anstieg der Staatsquote. Der Vertrag von Maastricht erzwingt also, wenn er greift, eine höheren Staatsanteil und eine höhere Besteuerung als optimal wäre.

Frage: Wie soll das alles in Europa funktionieren?
Antwort:  Es muss ein europäisches Finanzministerium eingerichtet werden. Ein Teil der Einkommenssteuer wird von diesem Ministerium erhoben, der andere Teil fließt an die Mitgliedsstaaten. Diese können ihren Teil unterschiedlich gestalten. Sie können nicht mehr ausgeben als sie einnehmen. Jede Verschuldung eines einzelnen Staates führt zu automatischen Erhöhungen des Einkommenssteuersatzes, sodass stets ein ausgeglichenes Budget garantiert ist (Schweizer Schuldenbremse).  Die im Sinne einer optimalen Steuerpolitik erforderlichen Steuererhöhungen oder Steuerentlastungen werden über den europäischen Teil der Einkommenssteuer realisiert. Es gibt also nur auf europäischer Ebene Überschüsse oder Defizite, nicht auf der Ebene der Mitgliedsstaaten. Die Defizite werden durch Kredite der Europäischen Zentralbank finanziert.


Frage: Die wirtschaftliche Lage in den verschiedenen Mitgliedsstaaten kann völlig unterschiedlich sein und würde unterschiedliche zusätzliche Besteuerung oder Steuerentlastung notwendig machen. Wie können die regionalen Disparitäten ausgeglichen werden?
Antwort: Durch Länderfinanzausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten, ähnlich wie gegenwärtig zwischen den Bundesländern der Bundesrepublik sowie durch regionale Lohnindexierung.








Montag, 14. November 2011

Die Idee der funktionalen staatlichen Finanzpolitik

Der Ausgangspunkt einer rationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist von Abba Lerner 1943 wie folgt formuliert worden:
Der Grundsatz ist, dass die staatliche Finanzpolitik -- die Staatsausgaben, die Bestreuerung, die Neuverschuldung und die Tilgung von Staatsschulden, die Geldschöpfung und der Entzug von Geld aus dem Wirtschaftskreislauf -- dass all dies allein in Hinblick auf das Ergebnis dieser Maßnahmen beurteilt wird und nicht danach, ob irgendwelchen traditionellen Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Finanzpolitik entsprochen wird.
Die öffentliche Diskussion über Besteuerung sollte diesen Gedanken besser berücksichtigen. Es bleibt oft unerwähnt, dass die Wirtschaftswissenschaft nur wenig zur Frage beigetragen hat, welche Staatsverschuldung (oder welcher dauerhafte Überschuss bei den Staatsfinanzen) anzustreben ist.

Die Idee, daß der Staatshaushalt langfristig ausgeglichen sein sollte, entbehrt jeder wissenschaftlichen Begründung. In wirtschaftswissenschaftlichen Modellen wird lediglich oft die Annahme gemacht, dass Vollauslastung aller Ressourcen bei ausgeglichenem Staatshaushalt möglich sei. Tatsächlich kann aber ein ausgeglichener Staatshaushalt eine Vollauslastung der Ressourcen, und damit Vollbeschäftigung unmöglich machen, oder unter Umständen, die dauerhafte Budgetüberschüsse erfordern, zu akzelerierender Inflation führen.

Aber selbst unter der Annahme, daß die Vollbeschäftigung aller Ressourcen bei Preisstabilität erreicht ist, ist die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, wie sie nunmehr sogar grundgesetzlich geboten ist, wirtschaftlich unvernünftig.

In  Artikel 115 Absatz 1 Satz 2 des Grund­gesetzes alter Fassung hieß es
Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushalts­plan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamt­wirtschaft­lichen Gleich­gewichts.
Das ist insofern eine sinnvolle Regelung, als sie die Kosten für Investitionen über den Zeitraum verteil, in dem die Investitionen genutzt werden.

Nunmehr heißt es statt dessen:
Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.
Soetwas meinte Lerner mit "traditionellen Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Finanzpolitik". Hier erhält ein unbegründetes Vorurteil, oder meinetwegen eine unnbegrüpndete Theorie, Verfassungsrang! Diese Regelung entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage und resultiert allein aus einem Mißtrauen gegenüber den verantwortlichen Politikern, oder sogar der Überzeugung, daß Politiker immer falsch entscheiden -- eine sonderbare Haltung in einer Demokratie. Aber natürlich entscheiden die Politiker manchmal falsch, z.B. wenn sie die Schuldenbremse ins Grundgesetz schreiben.